Borjana Ventzislavova. Als das Kind Kind war
Angela Stief
Das Werk von Borjana Ventzislavova ist voller Referenzen und Anspielungen. Reminiszenzen an eine persönliche Vergangenheit, aber auch Erinnerungsspuren eines kollektiven Gedächtnisses, das sich sowohl aus Mythen, als auch der Popkultur speist. Die Verbindungen, die die Künstlerin zwischen ihren persönlichen Erfahrungen und gesellschaftlichen Entwicklungen, zwischen Vergangenheit und Gegenwart zieht, könnte man auch als Netzwerken bezeichnen. Diese Analogieschlüsse, die nicht den Regeln der Logik, sondern der freien Assoziation folgen, und auch die Ausstellung im Bildraum 07 mit dem Titel WAHKOHTOWIN – Water walk with us bestimmen, stellen das Gegenteil zu den digitalen Netzwerken eines hypermodernen Lebens dar.
Der Begriff Wahkohtowin stammt aus der Sprache des nordamerikanischen Indianervolkes Cree und bedeutet wie die Künstlerin in ihrer Schau paraphrasiert, dass alles mit allem verbunden ist. Er steht für zirkuläre Systeme und Austauschprozesse, die Interkonnektivität in Beziehungen und natürlichen Gemeinschaften. Er steht auch für die Verbindung von Teil und Ganzem und die Kontingenz des Lebens.
Für die Ausstellung waren vor allem zwei biografische Erlebnisse von Ventzislavova relevant: Einerseits die Erinnerungen an ihre Teenagerjahre in Bulgarien, also die Umbruchsituation in den ehemaligen kommunistischen Ländern, und andererseits deren Triggererlebnisse, die plötzlich, während einer Künstlerresidenz in Banff (Kanada), durch verschiedene Landschaftseindrücke wie den Wald und beispielsweise Warnschilder vor wilden Tieren – „Be Bear aware“ – hervorgerufen wurden. Ventzislavova ist 1976 in Sofia geboren und erlebte den Fall des eisernen Vorhangs und damit auch den Verlust einer heilen Welt, auf den auch die Neonarbeit Als das Kind Kind war anspielt. Das Werk basiert auf einem Zitat von Peter Handke aus dem Film Himmel über Berlin von Wim Wenders, und überblendet in der Erinnerung an die Unschuld des Kindes auch eine reale Krisenhaftigkeit. In den Ländern, die Boris Buden als „Zone des Übergangs“ bezeichnete, prallten in der Zeit nach 1989 unterschiedliche politische Systeme und Weltanschauungen aufeinander. In der Bevölkerung verbreiteten sich Verunsicherung und Entwurzelung. Das Vertraute wurde unheimlich. Der Begriff „Heimlich“ kommt etymologisch gesehen von Heim und unheimlich bedeutet ein Fremdwerden des Heims. Da Ventzislavova 1996 nach Wien zog, um an der Universität für Angewandte Kunst bei Peter Weibel zu studieren, hat sich die Entfremdung von der Heimat auch in der Realität vollzogen.
Der crossmediale Ansatz, den die Künstlerin während des Studiums verfolgte, führte später zu einer Konzentration auf Fotografie, Installation, bewegte Laufbildmedien, Sound und Text. Zahlreiche Objets trouvés aus Banff wie ein Handschuh, eine Bären Glocke, ein Aufnahmegerät, ein Ohr, ein Zigarettenstummel, usw. versammelt die Künstlerin innerhalb eines installativen Settings, platziert die Relikte ihres Aufenthalts in Kanada direkt auf der Wand, zeigt sie als Assemblagen in Glaskästen oder auf durchnummerierten Tafeln. Die letztere Art der Präsentation erinnert an die Sicherstellung von Beweisstücken. Damit wäre ein weiterer Ankerpunkt der Schau, nämlich die US-amerikanischen Fernsehserie „Twin Peaks“, in deutsch „Das Geheimnis von Twin Peaks“ von den Regisseuren David Lynch und Mark Frost angesprochen. Die Serie, die in Bulgarien Anfang der 1990er-Jahre zur Hauptsendezeit ausgestrahlt wurde, vermischt die Genres von Kriminalfilm, Mystery- und Horrorfilm mit Elementen einer klassischen Seifenoper. Während der Ermittlungen an einem Mordfall decken die Detektive ein Labyrinth aus Sex, Drogen, Lügen und Gewalt auf, das sich hinter der idyllischen Fassade der Kleinstadt Twin Peaks verbirgt. Vor allem in der zweiten Staffel treten übernatürlich-phantastische Elemente immer stärker in den Vordergrund. Die Künstlerin setzt die Atmosphäre des Waldes in Banff und die bedrohlichen Natureindrücke in ein Verhältnis mit den surrealistischen und doppelbödigen Stimmungen in „Twin Peaks“.
Die Landschaft als Ort mythologischer Projektion ist auch Thema des Filmes Wahkohtowin von Ventzislavova, dessen Schauplätze alle in der Nähe von Wasserstellen liegen. Wasser verbindet wie auch die Idee von Wahkohtowin alles mit allem. Das Wasser führt zurück zu den menschlichen Ursprüngen, zu der Zeit vor der Geburt. Die Natur ist in der filmischen Darstellung weitestgehend frei von zivilisatorischen Eingriffen und steht für einen Residualraum, in dem sich die einzelnen, möglicherweise vereinzelten Individuen, ihrer Selbst annehmen. Im Leitmotiv des Seilspringens als einer kathartischen Handlung findet eine Ritualisierung der Geschichte, die ein zyklisches Weltbild impliziert, statt. Die in rote Gewänder gehüllten Protagonisten, die vor den unterschiedlichen Naturkulissen Seilspringen, inszenieren die Dynamik des Traumas und verleihen der Wunde, der ewigen Wiederkehr des Verdrängten eine symbolische Sichtbarkeit. Die Farbe Rot zieht sich leitmotivisch sowohl durch Film und Ausstellung, kulminiert in der Wandtapete mit rotem Vorhang und verbindet die Projektion mit dem Realraum.
Die künstlerische Praxis von Borjana Ventzislavova, die im Display Realität, Erinnerung, Fiktion und Filmgedächtnis vermischt und Assoziationsketten wie in einem Stream of Consciousness entwirft, könnte man mit dem Weben eines Netzes vergleichen. Der Film Wahkohtowin endet mit dem Tanz einer Einheimischen in Tracht. Surrealismus und Mystik, Exorzismen und Riten, die religiösen und parareligiösen Praktiken von indigenen Völkern, die gegenwärtig in der Kunst verstärkt in der Vordergrund rücken, stellen eine indirekte Kritik an einem rationalen und mechanistischen Weltbild dar. Doch besteht dieses Oeuvre aus mehr als Kritik, es entwickelt auch mittels der Erfahrung eines „Children of Communism“ eine persönlichen Mythologie, die das Individuum innerhalb eines gesellschaftlichen Spannungsfeldes situiert und Kunst als Strategie der Sublimation einsetzt.